Als die französische Philosophin Simone de Beauvoir 1949 ihr epochales Werk „Das andere Geschlecht“ publizierte, erntete sie nur vereinzelt Bewunderung. Vielmehr sah sie sich von verschiedenen Seiten mit teils heftigen Anfeindungen bis hin zur persönlichen Beleidigung konfrontiert. Der Vatikan setzte ihr Werk sogar auf sein „Verzeichnis der verbotenen Bücher“. Die revolutionären Gedanken der Philosophin rüttelten nicht nur eine patriarchal geprägte Nachkriegsgesellschaft auf, sondern begründeten auch die sogenannte zweite Welle des Feminismus. Grund hierfür war die von de Beauvoir erstmals vorgenommene Unterscheidung zwischen der biologischen Veranlagung und den sozial verhandelten Geschlechtsmerkmalen eines Menschen. Ihre Argumentation wurde schließlich in einer der wohl meistzitierten philosophischen Thesen des 20. Jahrhunderts zusammengefasst: „Man wird nicht als Frau geboren. Man wird dazu gemacht.“
68 Jahre später bringt eine junge Kanadierin ihre zweite Gedichtsammlung auf den Markt. Unter dem Titel The Sun and Her Flowers veröffentlicht die preisgekrönte Schriftstellerin Rupi Kaur unter anderem folgende Passage: „What’s the greatest lesson a woman should learn? That since day one, she’s already had everything she needs within herself. It’s the world that convinced her she did not.” / „Was ist die größte Lektion, die eine Frau lernen sollte? Dass sie alles, was sie benötigt, bereits von Tag eins an in sich trägt. Erst die Welt hat ihr beigebracht, dass dies nicht der Fall sei.“
9 von 10 Personen haben laut UN-Untersuchung Vorurteile gegenüber Frauen
De Beauvoir und Kaur stammen aus zwei unterschiedlichen Generationen, sind in gänzlich verschiedenen Milieus aufgewachsen. Und doch gleichen sie sich in ihrer Diagnose einer Gesellschaft, die Frauen in ein ganz bestimmtes und oft von Männern vorgegebenes Rollenmuster zwängt. Eine Gesellschaft, die so tut, als wären Frauen von Natur aus weniger fähig sich in Konflikten zu behaupten, weniger geeignet für Führungspositionen oder weniger belastbar als Männer. Aktuelle Zahlen des Allensbach-Instituts unterstützen diese Beobachtung: Demnach stimmten der Aussage „gewöhnlich rechne ich bei dem, was ich mache, mit Erfolg“ 57,7% der befragten Männer zu, aber nur 46,4% der Frauen. Und die UN-Untersuchung „2023 Gender Social Norms Index“ ergab, dass neun von zehn befragten Personen geschlechtsunabhängig Vorurteilen gegenüber Frauen anhingen – zum Beispiel, dass Männer als CEOs oder politische Amtsträger besser geeignet seien.
Inklusive Werbung wichtiger Schritt auf dem Weg zu Gender Equality
Wie de Beauvoir und Kaur gezeigt haben sind an diesen und ähnlichen Befunden aber nicht die Frauen schuld, sondern unser gesamtgesellschaftlicher Blick auf sie. Deshalb sind auch die Industrien gefragt, die diesen Blick prägen. Werbung steht hier mit an erster Stelle. Seit jeher werden mit und durch Werbung Rollenbilder erzeugt, verändert und manchmal auch gänzlich neu gedacht. Blickt man auf die Art und Weise wie Frauen in aktuellen Werbespots dargestellt werden, stellt man schnell fest, dass die oben zitierten Befragungsergebnisse kaum überraschen können. Wie unsere Daten zeigen, kommen Frauen zwar in 80% aller Werbespots vor, allerdings nur in 4% in einer ‚Aspirational‘-Rolle. Das Problem besteht also nicht in einer mangelnden Quantität, sondern in einem tradierten Rollenmuster, das zwar langsam aufgebrochen, aber dennoch nach wie vor produziert wird. Wenn Marketingverantwortliche alternative Perspektiven sichtbar machen wollen, müssen sie bereit sein, das klassische Rollenverständnis durch einen progressiven Gegenentwurf abzulösen.
Das vielleicht bekannteste Beispiel hierfür ist die Beauty-Marke Dove. Bereits seit 20 Jahren zeigt das Unternehmen im Rahmen seiner Real Beauty-Kampagne nicht nur normschöne Frauenbilder, sondern wirbt auch mit vermeintlich unperfekten Körpern. Dove setzt damit ein starkes Zeichen für Vielfalt und Individualität und formuliert die klare Botschaft, dass jede Frau einzigartig ist und es kein objektives Schönheitsideal gibt. Auch die schwedische Bindenmarke Libresse setzt mit seiner Bloodnormal-Kampagne Maßstäbe für progressives Marketing: Anstatt die weibliche Periode zu tabuisieren und Menstruationsblut blau einzufärben, stellt Libresse die Regelblutung als einen völlig normalen Vorgang dar. Keine Frau, so die Botschaft, sollte sich dafür rechtfertigen oder gar schämen müssen. Auch der türkischen Haushaltsgerätemarke Beko gelang mit dem Spot „Kadının İşi, Gücü!“ (auf Deutsch etwa „Frauenarbeit, Macht!“) ein Werbespot, der eine progressive Sicht auf Frauen und ihre gesellschaftliche Rolle einnimmt. Der Spot (KCEA Gewinner 2023) führt die Zuschauer*innen durch die Erinnerungen einer jungen Frau an ihre Kindheit und Jugend. Als Betrachterin / Betrachter bekommt man gezeigt, wie Frauenfeindlichkeit subtil in den Alltag eingewoben wird – beispielsweise durch den Hinweis, dass Staubsaugen oder das Beladen der Spülmaschine Frauensache sind. Im Verlauf des Spots wächst sie heran und gründet schließlich als Vertriebshändlerin für Haushaltsgeräte ein eigenes Unternehmen. Damit wird auf eine emotional eindrückliche Art und Weise das klassische Rollenverständnis aufgebrochen und der erfolgreiche Karriereweg einer Frau dargestellt. Ein weiteres Beispiel ist die Biermarke Heineken (KCEA Gewinner 2020), die in ihrem Spot „Cheers to all“ Männer und Frauen in einer Bar zeigt. Allerdings trinken entgegen der üblichen Sehgewohnheit nicht die Männer Bier und die Frauen Cocktails, sondern umgekehrt. Spots wie dieser dürfen aber nur der Anfang einer Entwicklung sein, in der Frauen nicht in ewig gleichen Rollenbildern gezeigt, sondern in ihrer ganzen Vielfalt gewürdigt werden. Dies gilt insbesondere auch für Frauen, die beispielsweise aufgrund von sozialer Herkunft, Hautfarbe, Alter, Body Image u.v.m. von intersektionaler, also mehrfacher, Diskriminierung betroffen sind.
Als Simone de Beauvoir die beschriebenen Zustände erstmals problematisierte, hatte die Welt gerade den Zweiten Weltkrieg überstanden. Heute, 75 Jahre später, sind beispielsweise in Deutschland zwar durchaus Fortschritte erkennbar, noch immer sind aber einige Stufen bis zur vollständigen Gleichberechtigung zu erklimmen. Wenn wir endlich flächendeckend damit beginnen, auch in der Werbung klassische Rollenmuster aufzubrechen und neue Frauenbilder zuzulassen, werden wir dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft einen großen Schritt näherkommen. Für Marken ist es auch kein Selbstzweck, Inklusion und Diversität bei der eigenen Werbestrategie stärker zu berücksichtigen – es lohnt sich: Unsere Daten zeigen, dass sich der ‚Return on Invest‘ bei glaubwürdiger Umsetzung deutlich verbessern kann, wenn die Werbung ein progressives Frauen- oder auch Männerbild repräsentiert. Konsumentinnen und Konsumenten erwarten mittlerweile, dass Marken marginalisierten Gruppen in ihrer Werbung zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Um erfolgreich zu sein, müssen Sie als Unternehmerin und Unternehmer ihre Werbung mit den Augen der Zielgruppe sehen und gegebenenfalls auch die eigene Strategie dementsprechend anpassen. Denn wir wissen aus unseren Daten: auch wenn Werbetreibende der Auffassung sind, progressive Rollenbilder zu inszenieren, sehen dies 75% der Befragten in vielen Fällen nicht so. Kontaktieren Sie uns, wenn Sie sich darüber detailliert austauschen möchten.
Heute zelebrieren wir bei Kantar den ‚International Women’s Day‘, der diesmal unter dem Motto ‚Inspiring Inclusion‘ stattfindet. Zum Stand der aktuellen Entwicklungen beim Thema Inklusion veröffentlichen wir in einigen Wochen den „Inclusion Index 2024“. Der Report legt erstmals am Beispiel deutscher Unternehmen dar, wie Konsumentinnen und Konsumenten die Bemühungen von Marken für Inklusion und Diversität beurteilen. Eine zentrale Erkenntnis besteht darin, dass sich eine wachsende Anzahl von Konsumentinnen und Konsumenten bei fehlendem Engagement von Marken abwendet und den Unternehmen dadurch hohe finanzielle Verluste drohen.